DIGITALE VERWALTUNG – WAS KÖNNEN WIR LERNEN?

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Estland – digitales Wunderland oder einfach so, wie es sein sollte? Können wir auch in Bezug auf Verwaltungskultur lernen?

Wer Part 1 und Part 2 dieses Blogartikels verpasst hat, kann hier nachlesen:
"Digitale Verwaltung – Wo steht Deutschland?"
"Digitale Verwaltung – Woran krankt es?"


Der Blick nach Estland ist kein 1/1 Vergleich mit Deutschland. Andere Gegebenheiten und Rahmenbedingungen verbieten ein Kopiedenken. Doch für das Suchen nach Inspiration und Lösungen ist der Blick über den Tellerrand immer sinnvoll. Und Estland ist natürlich im Bereich E-Government immer gern genannt und bildungsrelevanter Ausflugsort für deutsche Delegierte. 

Schon früh waren dort 99 Prozent der Verwaltungsgänge digitalisiert. Nur zur Heirat, Scheidung oder zum Immobilienkauf müssen die Esten persönlich erscheinen. Sogar wählen gehen können sie von zu Hause aus. Möglich ist dies, u.a., durch die digitale ID-Karte, der elektronischen Chipkarte und der entwickelten X-Road durch die Ämter, Banken und Versicherungen vernetzt sind.

Estland hat natürlich den Vorteil, nicht allzu viele historisch gewachsene Altlasten aufräumen zu müssen. 1991, die Unabhängigkeit von den Sowjets erlangend, standen Staat und weite Teile der Bevölkerung vor dem Nichts. In vielerlei Hinsicht musste Estland wie ein riesiges Start-up handeln und auf Innovation setzen. Es fehlten die Mittel, einen traditionellen Staatsapparat mit Personal und Bürgerbüros zu finanzieren. Die digitale Innovation war die effizienteste Lösung.

Natürlich ist nicht alles Gold was glänzt. Auch Estland kämpft damit, dass Jüngere auswandern. Denn im Schnitt verdienen die Esten nicht viel. Das Bruttosozialprodukt liegt in Estland bei 18.000 US-Dollar, in Deutschland bei 45.000 US-Dollar. Und Beamte können in Estland von einem Tag auf den anderen entlassen werden. Doch dessen Digitalisierungsoffensiven und Lösungen für einige Problemstellungen sind mehr als spannend.

Es gilt der Grundsatz des One-Stop-Government. Der Zugang des Bürgers erfolgt über das zentrale Staatsportal. Dort können fast alle administrativen Vorgänge erledigt werden. Jeder Bürger hat eine offizielle E-Mail-Adresse, über die er mit der Verwaltung kommuniziert. Und dann gilt zudem für die estnische Verwaltung das Once-Only-Prinzip. Etwas, das sich ja auch Deutschland auf die Fahne geschrieben hat.

Der entscheidende Wendepunkt für den öffentlichen Dienst war 2001 die Einführung der oben bereits erwähnten digitalen ID Card. Neugeborene erhalten noch im Krankenhaus an einem Armband die elfstellige ID.

Laut estnischer Regierung ist das Identifizierungssystem mit der elektronischen Chipkarte eines der sichersten, fortschrittlichsten der Welt, auf dem Niveau einer militärischen IT Anwendung. Estland liegt bei der Cybersicherheit im Weltranking auf Platz 5.


Quelle: www.e-estonia.com


Die Behörden dürfen den Bürger, dessen Daten bereits erfasst sind, nicht nach seinen Daten fragen. Die einzelnen Behörden sind zwar für bestimmte Datensätze zuständig, tauschen diese aber untereinander aus beziehungsweise machen sie im gemeinsamen System für Berechtigte verfügbar. Jeder Datenaustausch beruht dabei, das ist besonders wichtig, auf einer gesetzlichen oder vertraglichen Grundlage. Es gilt der Grundsatz der Transparenz: Der Bürger kann über einen „Data Tracker“ jede Informationsabfrage nachvollziehen und so die Berechtigung der Abfrage prüfen. Vor Datenmissbrauch beispielsweise durch einen Polizisten oder einen Arzt schützt dessen ID, die er für jede Abfrage nutzen muss (Ausnahme bei der Polizei: strafrechtliche Ermittlungen). Unrechtmäßige Datenabfragen werden geahndet. Dies entspricht der durch EU-Recht vorgeschriebenen Ex-Post-Kontrolle.

Der erste in Estland verfügbare Online-Dienst war die elektronische Steuererklärung. 95 Prozent der Bürger erledigen ihre Steuererklärung inzwischen elektronisch und dies in angeblich 3 Minuten. Denn Banken und Finanzamt sind über die X-Road vernetzt. Begünstigt wurde zudem die hohe Beteiligung der Bürger durch ein Anreizsystem. Rückzahlungen erfolgen drei Monate früher, wenn sie elektronisch vorgenommen werden.

Es gibt keine zentrale staatliche Datenbank, sondern eine Vielzahl dezentraler Datenbanken mit eigenen Sicherheitsservern, die,miteinander verbunden, ähnlich wie eine Blockchain funktionieren. Die um 2000 von Estland und Finnland entwickelte „X-Road“ ist ein System, das den Datenaustausch zwischen den Behörden in Echtzeit erlaubt und durch Dezentralität sehr hohe Sicherheitsstandards bietet. 504 staatliche Institutionen und 651 Privatunternehmen nehmen heute an der estnischen X-Road teil. Mittlerweile arbeiten Finnland und Estland gemeinsam an einer internationalen X-Road.

X-Road: 

 

Seit 2005 kann elektronisch gewählt werden. 47 Prozent der estnischen Wähler haben bei der Europawahl elektronisch gewählt. Die Wahlbeteiligung ist möglicherweise auch aufgrund dieser Neuerung um bis zu ein Drittel angestiegen. Die elektronische Wahl ist bei den Esten allerdings, anders als alle anderen ID Card basierten digitalen Neuerungen, politisch umstritten.


Kein Luxusproblem, sondern essentiell für unseren Standort

Keinen digitalisierten Verwaltungsapparat zu haben, ist kein Komfort oder Luxusproblem, es ist Indikator für eine Wirtschaft, die gerade abgehängt wird – denn das eine bedingt immer auch weitere Konsequenzen. Es zeigt deutlich, dass Deutschland insgesamt in der Digitalisierung hinterherhinkt. Es bedeutet Wettbewerbsnachteil und „Verlust der staatlichen Handlungsfreiheit“, wie der Verwaltungswissenschaftler und Digitalrat Peter Parycek schon auf der re:publica 2019 warnte. 

Für viele (neu gegründete) Unternehmen sind unsere langwierigen Prozesse, die man durchaus als innovationsbehindernd bezeichnen kann, zu langwierig, komplex und unnötig, als dass man sich langfristig damit auseinandersetzen möchte. Dazu kommt der Regulierungsdrang der Politik, der sich selbst und der Digitalisierung im Weg steht. Wer sich für längere Zeit mit deutschen Behörden beschäftigt, hat irgendwann keinen Spaß mehr an der Arbeit: ein weiterer Grund, dass viele Unternehmen ins Ausland gehen.

Und seien wir mal ehrlich: eine Verwaltung und damit auch eine Politik, die in vielen Augen so ungreifbar, so intransparent, so weit vom Bürger entfernt scheint, bedeutet dies nicht auch, einen gefährlichen Nährboden für rechtes Denken zu schaffen? Parycek, der den Think Tank „Öffentliche IT“ am Fraunhofer FOKUS leitet, sieht die Gefahr, dass der Staat mit der Digitalisierung nicht Schritt halten kann. Auf lange Sicht könnte er so seine Steuerungsfähigkeit und damit ein Stück weit seine Legitimation einbüßen. 


Notwendige Veränderungen in der Verwaltungskultur

Von Verwaltungswissenschaftler und Digitalrat Peter Parycek nehme ich zwei Ansätze mit, die ich als gewinnbringend empfand. Zum einen das Aufstellen interdisziplinärer Teams, die mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters umgehen können. Ich selbst als Digital Strategin, die in viele Firmen von außen reinschauen durfte, habe keinen Bereich angetroffen, bei der die Vernetzung bestimmter Teams nicht sinnvoll und für alle gewinnbringend war.

Und zum anderen, den Gedanken „Law is Code“. Wir haben in den verschiedenen Bereichen, die dieser Blogartikel streift, immer wieder vor Augen geführt bekommen, dass eine Digital Strategie für den Staat viel profunder ansetzen muss, statt an der Oberfläche technische Features zu verteilen. Parycek geht sogar so weit, dass Informatiker:innen verstärkt in den Gesetzgebungsprozess miteinbezogen werden sollten, um bereits im Gesetzgebungsverfahren neue Wege beschreiten zu können. „Denn digitaler Staat ginge nur, wenn Gesetz und Code gemeinsam beschlossen würden. In allen anderen Fällen würden Staat und Digitalisierung weiter auseinander driften.“

Doch bislang fehlt eben die technische Expertise im Gesetzgebungsverfahren, damit neue Gesetze und Digitalisierung Hand in Hand gehen können. Der Code kommt lange nach dem Gesetz, wenn er denn überhaupt kommt.  Und so fordert Parycek, dass „neben dem gängigen Gesetzestext und den üblichen Erläuterungen auch Programmzeilen, die e-Governance ermöglichen sollen, bereits im Gesetzgebungsverfahren diskutiert und beschlossen werden. Nur so könnten Verwaltung und Digitalisierung aufeinander abgestimmt und transparent ermöglicht werden.“

Alles in allem, so betont Parycek, komme es darauf an, dass Digitalisierung und Staat nicht auseinander drifteten. Nur so könne die Handlungsfähigkeit des Staates im Zeitalter der Digitalisierung aufrechterhalten werden.



Quellen:

  1. https://t3n.de/
  2. Datev Magazin, Podcast #39, Digitalisierung in Europa: Estland – Land ohne Steuerberater?, Constanze Elter, Carsten Fleckenstein, Michael Öchsler
  3. https://www.tagesspiegel.de/
  4. https://netzpolitik.org/

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